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Die Kimisis-Ikone des Domenikos Theotokopoulos – Ein frühes Werk El Grecos in Ermoupolis (Syros)

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2018-07-16 2023-12-05 16.07.2018
El Greco 0007
Dominikos Theotokopoulos

Ein wichtiger Zeitzeuge der Entwicklung der Stadt Ermoupolis im griechischen Befreiungskampf des 19. Jhs. ist eine Ikone, die ein Flüchtling aus Psara im Gepäck hatte, als er auf der Kykladeninsel Syros seine neue Heimat fand. Der Flüchtling „weihte sie der hiesigen gleichnamigen Kirche im Psaraviertel“, wie die in Athen geborene Autorin und Korrespondentin Evi Melas schreibt. Dort befand sich die Ikone, voll gehängt mit Devotionalien und von Kerzen rußgeschwärzt, viele Jahrzehnte unbeachtet und „dämmerte vor sich hin“, bis der griechische Archäologe und damalige Superintendent für die byzantinischen Altertümer auf Chios, G. Mastoropoulos, sich im Jahre 1983 ihrer annahm und sie genauer untersuchte. Dabei entdeckte er eine Signatur, die sich nach einigen Untersuchungen als echt erwies und die Ikone als ein Werk des berühmten, aus Kreta stammenden Meisters Domenikos Theotokopoulos, später unter dem Beinamen „El Greco“ bekannt geworden, auswies.

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Domenikos Theotokopoulos

Die Ikone misst 61,4 x 45 cm und zeigt die Darstellung der Entschlafung Mariens, der „Kimisis tis Theotokou“, wie es im Griechischen heißt. Wie auf einer Bildbühne hat der Meister die Szene vor einer im Hintergrund befindlichen Architekturkulisse mit leicht schräg gestellten Türmen und einem Giebelbau am rechten Bildrand gestaltet, indem er in den Vordergrund des Bildes die leicht schräg gestellte, mit kostbaren faltenreichen Stoffen bedeckte Kline platzierte, auf der die verstorbene Gottesmutter aufgebahrt ist. Sie trägt ihr übliches Untergewand und darüber den über ihren Kopf gezogenen faltenreichen Himation, der ihr Antlitz und ihre auf dem Oberkörper ruhenden schmalen Hände freigibt und sie plastisch abbildet. Ihre Augen sind geschlossen, trotzdem zeigt ihr Antlitz jenes Idealschema, das wir seit den Tagen des frühen Christentums kennen: große Augen, überhöht angegebene Augenbrauen, geradlinige Nase und kleiner, hier geschlossener Mund. Ein Idealschema, das zweifelsohne den Typus der antiken Kunst wieder lebendig werden lässt und als ein wichtiges Charakteristikum byzantinischer Antlitzgestaltung gewertet werden darf. Um diese zentral platzierte Kline haben sich links und rechts zwei in den Bildraum nach hinten gestaffelte Figurengruppen versammelt, deren vordere Figuren noch vollplastisch formuliert sind, deren hintere Mitglieder nur durch ihre Köpfe oder durch Teilansichten ihrer Oberkörper in Erscheinung treten. Durch ihre Staffelung in den Bildraum erzielte der Meister eine beachtliche tiefenräumliche Wirkung zum einen und eine sehenswerte Lebendigkeit der Figurengruppen zum anderen, deren Mitglieder teilweise den Trauergestus zeigen, teilweise sich sogar anschauen oder sich um einander kümmern. Bemerkenswert sind die auf beiden Seiten zu Beginn dieser Gruppen abgebildeten Figuren, die sich auf die Kline zubewegen, mit ihrer linken Hand an die Kline fassen oder mit ihrer rechten Hand ein Weihrauchfass schwingen. Die eine das Weihrauchfass schwingende Figur ist der Apostel Petrus, sein Gegenüber, dessen Antlitz etwas bestoßen ist, kann nicht näher bestimmt werden. Sie sind in gewisser Weise antithetisch dargestellt. Eine weitere Figur ist im rechten Bildteil erkennbar. Sie steht hinter der nach vorn gebeugten Figur und kann aufgrund ihrer Haar- und Barttracht als der Apostel Paulus identifiziert werden. Durch die Anordnung der Figuren erzielte der Meister einerseits eine leichte Körperdrehung der Figuren und zugleich ein raumgreifendes Motiv, andererseits einen S-förmigen Aufbau des Figurenbildes, der an den polykletischen Figurenaufbau im klassischen Griechenland erinnert. Durch ihre mal leicht, mal stark gebeugte Haltung drücken sie zugleich eine tiefe Verehrung gegenüber der auf der Kline aufgebahrten Verstorbenen aus. Die beiden seitlich der Bildbühne aufgebauten Figurengruppen, deren einzelne Mitglieder sich so im Bildraum verteilen, dass eine Räumlichkeit entstehen kann, werden in der Bildmitte durch den hinter der Kline stehenden und sich gleichfalls nach vorn beugenden Christus unterbrochen. Er ist mit seinem faltenreichen, hier golden gestalteten Gewand umhüllt, wodurch der Künstler anzeigt, dass hier der auferstandene und in den Himmel aufgefahrene Christus gemeint ist. Er wendet sich mit seinem Antlitz, in dem das Idealbild zum Vorschein kommt, seiner verstorbenen Mutter zu und hält liebevoll ein Wickelkind, das die Seele Mariens symbolisiert, auf seinen ausgebreiteten Armen. Hinter ihm entfaltet sich ein goldgrundiges, fast mandorlaartiges Gebilde, in dem verschieden nach oben gestaffelte Engelsfiguren und als oberer Abschluss Seraphim eingezeichnet sind und in deren Mitte die über dem Haupt Christi schwebende Taube des Hl. Geistes gemalt ist. Krönender Abschluss dieses Gebildes ist die oben erscheinende, sitzende Gottesmutter, deren faltenreicher Himation im Bereich des Unterkörpers golden, im Bereich des Oberkörpers und des Kopfes dunkel gemalt ist. Sie ist in einer leichten Körperdrehung wiedergegeben, hat ihren Kopf zu ihrer linken Körperseite gedreht und weist mit ihrer linken Hand nach unten, während ihre rechte, aus dem Gewand herausgeführte Hand nach oben zeigt und damit einen Gebetsgestus andeutet. Die Gottesmutter ist umgeben von einem Kreis schwebender Engel, die außen schwebend in Seitenansicht wiedergegeben sind, innen dagegen nur als Kopfbildungen erscheinen. Abgeschlossen wird diese Himmelsszene von auf Wolken schwebenden Figuren auf jeder Seite, die aus jeweils sechs Figuren bestehen und nebeneinander gesetzt als Halbfigurenbilder gemalt sind. Damit bestimmt die Betonung der aufsteigenden Mittelachse den gesamten Kompositionsaufbau dieses Bildes, darin die Gottesmutter gleich dreimal in Erscheinung tritt: einmal als Verstorbene auf der Kline, zum anderen als Wickelkind auf den Armen des goldgewandeten Christus, diesmal jedoch in Form einer verkleinerten Maria in ihrem blauen, über ihr Haupt gezogenen Himation, und schließlich als sitzende, in den Himmel auffahrende Gottesmutter, die von Engeln dorthin geleitet wird. Hier erscheint auch der kniende, in einer Drehung dargestellte jugendliche Johannes, der mit beiden Händen auf die Gottesmutter weist.

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Domenikos Theotokopoulos

Betrachten wir diesen Bildteil genauer, so fällt zunächst sein mandorlaartiger, nach oben spitz zulaufender Umriss auf, in dem unten die nach vorn gebeugte und golden gewandete Christusfigur und oben die in den Himmel auffahrende Gottesmutter abgebildet sind. Die im oberen Teil dieses mittleren Bildausschnitts dargestellte Gottesmutter ist allein wegen ihres Sitzmotivs beinahe majestätisch in Szene gesetzt und vom Meister hervorgehoben worden. Ein Vergleich beider Darstellungen der Gottesmutter – der auf der Kline aufgebahrten verstorbenen ebenso wie der thronenden, in den Himmel auffahrenden Gottesmutter – zeigt, wie gekonnt der Meister diese Figur in Szene zu setzen verstand, wie genau er jeweils die Fältelung ihrer Gewänder formulierte und wie genau er sich an ihren Darstellungstypus hielt. Darüber hinaus bemerkt der aufmerksame Betrachter zugleich den goldgrundigen Hintergrund dieses Mittelteils, worin die Figuren goldgewandet abgebildet sind und sich als himmlische Wesen zu erkennen geben. Der in diesem Bildteil vorherrschende Goldgrund signalisiert zugleich dem Betrachter, dass es sich um einen göttlichen Bereich handeln muss. Denn der Goldgrund ist seit dem frühen Christentum der höchsten hierarchischen Ebene vorbehalten, also im Kontext weltlicher Darstellungen der Ebene des Kaisers, im Kontext biblischer Szenen der göttlichen Ebene. Christus mit dem Wickelkind als Symbol der Seele Mariens erscheint hier in einem goldenen Gewand und damit eindeutig als der Sohn Gottes, der nach seiner Kreuzigung und Auferstehung in den Himmel auffuhr und dort zur Rechten Gottes thront. Die in diesem Mittelteil der Ikone abgebildeten Figuren von Christus, der Taube des Hl. Geistes und der in den Himmel auffahrenden Gottesmutter sind entlang einer angedeuteten, nach oben aufsteigenden Mittelachse übereinander gesetzt und bilden einen Bildmittelpunkt. Diese Mittelachse beginnt bei dem im Vordergrund unten abgebildeten kleinen, von Karyatiden getragenen Kandelaber, der auf beiden Seiten von je einem Kerzenleuchter umgeben ist, und setzt sich in dem darüber hinter der Kline dargestellten Christus fort. Darüber sind die herabfliegende Taube des Hl. Geistes mit ihren ausgebreiteten Flügeln und als krönender Abschluss die in den Himmel aufgenommene Gottesmutter gemalt. Geschickt hat der Maler somit bildlich eine Beziehung zwischen Christus und der Taube des Hl. Geistes einerseits und der thronenden Gottesmutter andererseits hergestellt und zugleich die Apotheose der Gottesmutter ausgedrückt.

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Domenikos Theotokopoulos

Nimmt man zunächst die in diesem Ikonenbild dargestellten Figuren unter die Lupe, so fällt zuerst deren genaue Zeichnung, ihre fein ausgearbeiteten Antlitze, ihr fein frisiertes Haar, soweit es sichtbar und nicht durch einen Teil ihrer Gewandung verdeckt ist, außerdem die feinen Fältelungen ihrer Gewänder, worin Licht- und Schattenwirkung ausgedrückt ist, und darüber hinaus ihre geschickte Anordnung im Raum auf, worin sich eine beeindruckende Raumwirkung entfaltet. Hierin erweist sich der Maler als Meister seines Faches, zugleich als Kenner der Bildtradition byzantinischer Malerei. Vor allem in den Gesichtsbildern der einzelnen Figuren, in denen ein Idealbild zum Vorschein kommt, lässt sich seine Kennerschaft byzantinischer Bildtradition ablesen. Wie in den Wandmalereien der byzantinischen Kunst verwendet der Meister auch in diesem Ikonenbild den Trick, die Figuren auf einer relativ schmalen Aktionsbühne agieren zu lassen, die nach hinten, wie gesehen, durch ein architektonisches Band in Form der Mauer, der schräg gestellten Türme und des Torbaus mit Giebel im rechten Bildteil ihren Abschluss findet. Darüber entfaltet sich sodann der Goldgrund des Firmaments, in dessen Zentrum innerhalb eines Gewölks die Schar der himmlischen Wesen versammelt ist und seitlich auf Wolken schwebend die Apostel wiedergegeben sind, zusammengefasst zu je sechs Figuren auf beiden Seiten. Sie sind vom Meister gleichsam als Zeugen dieses Geschehens abgebildet worden, womit er sich auf eine Legende berufen konnte, der zufolge „zum Tode Mariens, der nach der Legende in Jerusalem stattfand, alle Apostel außer Thomas erschienen“ waren. Der Meister nutzte in diesem Fall seine künstlerische Freiheit. Der legendenhaften Überlieferung entsprechend stellte der Ikonenmeister zwar in diesem Bild zuallererst die anlässlich des Todes der Maria stattfindenden Exequien dar, wobei „Petrus, Paulus und Johannes Evangelist die Exequien durchführten und Christus mit Engeln in ihrer Mitte erschien, um die Seele Mariens aufzunehmen“, erweiterte aber das Thema, indem er die Himmelfahrt der Gottesmutter darstellte und die auf Wolken schwebenden Apostel darüber hinaus auch zu Zeugen der Himmelfahrt der Gottesmutter bildlich wiedergab. Deren „leibliche Himmelfahrt tritt in der oberen Hälfte des Bildes (erst in später Zeit) hinzu“ und gehörte nicht von Anfang an zu diesem Bildsujet. Die Bildszene des Marientodes, deren Kerndarstellung von Anfang an „die Szene rund um die Bahre mit der zentralen Figur Christi, der die Seele Mariens, die als Wickelkind gezeigt wird, in seine Arme nimmt“, ist, wurde hier bewusst um die leibliche Aufnahme der Gottesmutter in den Himmel und um die bildliche Zeugenschaft der Apostel erweitert. Der Begriff „Κοίμησις“ leitet sich ab vom griechischen Wort „κοιμάω“, was übersetzt „schlafen“ bedeutet und schon durch diese bewusst gewählte Wortwahl darauf verweist, dass Maria keinen menschlichen Tod erlitten habe. Deswegen ist von Anfang an das eigentlich zentrale Bild dieser Szene „Christus mit der Maria als Wickelkind im Arm, (...), eine Art Gegenstück zum Hodegetriabild, (...), in dem Maria den kleinen Christus auf dem Arm hält“. Mit diesem Motiv wird zugleich angezeigt, dass die Gottesmutter „die Rückführung (...) in den Urzustand – körperlich in den Moment nach der Geburt, geistig ins Paradies –“ erfuhr, weswegen dieses Bild zu einem wichtigen Bestandteil der orthodoxen Mariologie wurde. Die Ikonographie dieses Themas dürfte nach Meinung zahlreicher Forscher, „wie das zugehörige Fest (15. August), in Syrien oder Palästina im 6. Jahrhundert entstanden sein“. Es war wahrscheinlich von den frühen Christen zunächst als Gegengewicht zum Fest der altorientalischen Muttergottheit der Ischtar/Astarte geschaffen, deren Untergang hinter dem Horizont am 10. August, deren Aufgang am 8. September gefeiert wurde. Um 600 wurde der 15. August endgültig in den Festkalender der byzantinischen Kirche aufgenommen. Dabei hat die Ostkirche anders als die katholische Kirche die leibliche Himmelfahrt Marias niemals zum Dogma erhoben. Obwohl frühe Abbildungen dieses Themas fehlen, was wahrscheinlich in erster Linie mit dem Bilderstreit des 8. und 9. Jhs. zu tun hat, können wir durchaus annehmen, dass dieses Thema auch schon früh im Laufe des 6. Jhs. n. Chr. in der bildenden Kunst bearbeitet worden ist. Zu den ältesten erhaltenen Abbildungen dieses Themas zählt neben einem Steatitrelief in Konstantinopel aus dem 10. Jh. eine Darstellung vom Sinai aus dem 11. Jh. Die Grundlagen einer Bildikonographie dieses Themas, wie immer diese zu ihrem Beginn auch ausgesehen haben mag, bilden verschiedene apokryphe Schriften, in denen Tod und Himmelfahrt der Gottesmutter behandelt wurden. Eine besondere Rolle spielen hierbei der um 500 n. Chr. lebende Theologe Dionysios Areopagita und der um 650 n. Chr. in Damaskus geborene und 754 in Mar Saba gestorbene Theologe und Kirchenvater Johannes von Damaskus, aber auch die Predigt des Andreas von Kreta, der um 660 in Damaskus geboren wurde und 740 auf Lesbos starb. Er war Metropolit von Gortyn auf Kreta und ein Hymnendichter. Und nicht zuletzt ist eine Homilie des Johannes von Thessaloniki aus dem 7. Jh. zu erwähnen, in der von der Entschlafung der Gottesmutter und ihrer Himmelfahrt die Rede ist. Johannes von Thessaloniki war im Übrigen „einer derer, die explizit die sofortige Auferstehung der Jungfrau, die Himmelfahrt ihres Körpers und ihrer Seele“ postulierten. Und schließlich ist der 1298 gestorbene Jacobus de Voragine anzuführen, dessen Legenda Aurea in Ost und West viel gelesen wurde und der den Erzählstoff in einem Text vereinigt hat.

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Domenikos Theotokopoulos

Domenikos Theotokopoulos hat diese Ikone gemalt, wie die Signaturinschrift besagt. Damit zeigt sich, dass der um 1541 auf Kreta geborene und 1614 in Toledo gestorbene Domenikos Theotokopoulos zunächst ein Ikonenmaler war. Er hatte seine Ausbildung auf Kreta erfahren, wo es „eine Schule für Ikonenmalerei (gab), die orthodoxe Tradition mit westlichen Einflüssen verband, die über die Druckgraphik aus Venedig auf die Insel gelangten“, und war zuerst als Ikonenmaler tätig. Als ein erfolgreicher Ikonenmaler im Übrigen, wie aus den Quellen hervorgeht, denn bereits 1565 schätzte der Ikonenmaler Giorgios Klontzas die von Theotokopoulos gemalte Passion auf 70 Dukaten, während der zweite Gutachter sogar 80 Dukaten vorschlug. Ein Betrag, den Meister wie Tintoretto damals mit ihren Bildern erzielten. Weiterhin wissen wir, dass sich Domenikos Theotokopoulos, der später unter dem Namen „El Greco“ berühmt wurde und ein Maler, Bildhauer und Architekt sowie ein Hauptmeister des spanischen Manierismus war, sich 1568 in Venedig aufhielt, weiter nach Rom zog und seit 1576 in Toledo bezeugt ist. Infolgedessen muss die Kimisis-Ikone in seine kretische Phase gehören und kann vor 1567 datiert werden. Zu dieser Zeit zählte Theotokopoulos „zu den am stärksten geschätzten Malern Kretas“.

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Domenikos Theotokopoulos

Im Vordergrund des Bildes wählte der Meister ein besonderes Motiv, eine Eigenschöpfung. Er stellte in der Mitte einen von Karyatiden getragenen Kandelaber dar, den er auf jeder Seite mit einem weiteren Kerzenständer umrahmte. Damit griff er ein Motiv auf, das er wahrscheinlich einer druckgraphischen Vorlage entnommen hatte und erweiterte das bis dato übliche Bildsujet. Zugleich machte er damit deutlich, dass im unteren Teil des Bildes die Exequien dargestellt sind, weswegen der Apostel Petrus, der das Weihrauchfass führt, und Paulus sowie alle übrigen Beteiligten den Begräbnisfeierlichkeiten beiwohnen. Diese Komposition kombinierte er geschickt mit der Himmelfahrt der Gottesmutter und berief sich dabei auf die überlieferten Texte. Gleichzeitig signierte er die Ikone, was eigentlich unüblich war, und „unterstrich (...) seinen humanistischen Anspruch und seine weitergehenden künstlerischen Ambitionen“, wie M. Scholz-Hänsel meint. Er fühlte sich also weniger als Ikonenmaler, vielmehr als Künstler, der sich in diesem Bild scheinbar einer byzantinischen Tradition widmete, in Wirklichkeit aber schon jetzt diese Tradition verlassen und eine eigenständige Komposition geschaffen hatte. Dabei spielt die Lichtaureole, in deren Zentrum sich die Taube des Hl. Geistes befindet, eine besondere Rolle. In ihr sind an ihrem unteren Ende die verstorbene Gottesmutter am Ende ihrer irdischen Tage, die Seele der Gottesmutter in Form des Wickelkindes und schließlich die in den Himmel auffahrende, jetzt wieder thronend dargestellte Gottesmutter wiedergegeben und geben die Bildthematik vor, nämlich den Tod und die Himmelfahrt der Gottesmutter. Dabei nimmt der golden gewandete Christus eine besondere Stellung ein, indem er nicht nur das Wickelkind als Symbol der Seele Mariens in seinen Händen hält, sondern sich liebevoll zu seiner Mutter beugt und sie anschaut. Gefühlsäußerungen bestimmen also das Gesicht Christi. Auch die übrigen Figuren zeigen starke Gefühlsäußerungen, sei es, dass sie einen tiefen Trauergestus zeigen, sei es, dass sie im Gespräch miteinander das Gesehene verarbeiten oder sich anschauen. So liegt eine tiefe, aber zugleich fast fröhliche Stimmung in diesem Bild – angesichts des wahren Geschehens, der leibhaften Himmelfahrt der Gottesmutter. Damit hat Domenikos Theotokopoulos bewusst den engen Rahmen einer Bildikone gesprengt und einen neuen Bildrahmen für dieses Thema geschaffen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Die Kimisis-Ikone des Domenikos Theotokopoulos aus den Jahren vor 1567 in Ermoupolis auf Syros ist scheinbar in der byzantinischen Tradition der Entschlafung der Gottesmutter gestaltet, verlässt aber diesen engen Rahmen und erweitert das Bildthema um die Himmelfahrt der thronenden Gottesmutter. Das Bild ist ein Meisterwerk der Bildkunst des 16. Jahrhunderts. Mit der Signierung der Ikone hat der Meister den Rahmen der Ikonenkunst gesprengt und eine neue Gattung geschaffen.